Leserbriefe Kein Grund

28 | ALSTERTAL MAGAZIN MAGAZIN Leserbriefe Zu jeder Ausgabe erreichen uns zahlreiche Zuschriften von Lesern als Reaktion auf unsere Artikel. Besonders kontrovers wurde im letzten Monat unser kritischer Text zu Martin Luther diskutiert. Hier eine Auswahl der Briefe! Riesige Lebensleistung Die im Interview geäußerten Ansichten er- scheinen mir sehr einseitig. Es wird nur die politische Seite der Reformation beleuchtet. Zunächst einmal würde ich von keinem Menschen des 15./16. Jahrhunderts ein annähernd modernes Demokratieverständnis erwarten. Auch für die Kategorie der Vernunft war die Zeit erst mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert reif. () Ich kann und will hier nicht die beiden Konfessionen vergleichend werten. In der evangelischen Kirche gibt es, wie Dr. Schulz ausführt, wahrlich Versäumnisse und Irrwege. Aber sicher kann man sagen, dass evan- gelische Kinder weniger geängstigt werden mit der Erbsünde und den Todsünden, noch werden sie genötigt zu demütigenden Buß- übungen, die es mancherorts auch heute noch gibt. Vielleicht kann man sich das im liberalen Hamburg nicht vorstellen. Aber eine Psychotherapeutin im katholisch ge- prägten Rheinland sagte mir einmal: Wenn ein katholischer Patient zu mir kommt, dann veranschlage ich gleich fünzig Therapiestun- den mehr. Weniger Sündenangst und damit weniger Abhängigkeit von Priesern und auch päpstlichen Dekreten, das zumindest verdan- ken wir Luther. Ebenso wie seine Bibelüber- setzung mit ihrer großen Bedeutung für die deutsche Sprache. Kritische Blicke darauf, wo Luthers Grenzen lagen und darauf, was die Menschen aus seiner Erkenntnis gemacht ha- ben, können nicht schaden. Aber die riesige Lebensleistung Luthers kann man auch heute noch würdigen. Ja, und feiern kann man sie auch. Dagmar Eulitz Kein Mensch kann Vorbild sein. Menschen handeln stets unter den zeitlich bedingten politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen sowie unter deren Voraussetzungen und Zwängen. Folglich kann kein Mensch, der in ganz anderen poli- tischen und gesellschaftlichen Verhältnissen sowie unter deren Voraussetzungen und Zwängen. Folglich kann kein Mensch, der in ganz anderen politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen lebte, Vorbild, also Handlungsmuster für Entscheidungen der Gegenwart sein. Ein ganz anderes Thema ist die Geschichte der Kirchen, hier insbesondere der evangelisch-lutherischen Kirche. Sie verweisen zu Recht auf das Unwesen der Deut- schen Christen im Dritten Reich und beklagen die mangelhafte Aufarbeitung durch die evangelische Kirche heute. Aber wollen Sie dafür einen Mann zur Verantwortung ziehen, der vor 500 Jahren lebte? Hans-Wilhelm Witthoff ...KANN MAN AUCH HEUTE NOCH WÜRDIGEN. 22 | ALSTERTAL MAGAZIN MAGAZIN MAR_GER_ALS_A Alstertal Magazin: Alle loben Luther. Sie kritisieren ihn. Sogar heftig. Sind Sie ein Spielverderber? Oder ist die Luthervereh- rung wirklich verfehlt? Dr. Paul Schulz: Im Blick auf das Jubiläumsjahr 2017 hatte die luthe- rische Kirche eine riesige Chance: Sie verfügte in den nahezu zehn Jahren ihrer Jubiläumsvorbereitungen über genügend Zeit, viele der Probleme aufzuarbeiten, die Martin Luther aus Sicht einer modernen Gesellschaft schwer belasten, jene Positionen vor allem, die zwischen ihm speziell als Repräsentant einer gottgewollten Fürstenherrschaft und unsere säkular-demokratischen Gesellschaft radikal konträr sind. Diese Arbeit hat die Kirche auf 2017 hin nicht geleistet. Sie hat eher auf ein Event-Festival gesetzt, dabei nahezu alle brennenden Probleme unter den Teppich gekehrt und sich so - wieder mal herumgedrückt um ernsthafte Auseinandersetzungen mit der modernen Gesellschaft. Was genau sind denn die Probleme mit Luther? Zum einen Luthers Verrat an den Bauern in deren Befreiungskampf aus der Leibeigenschaft gegen den Adel und damit gegen das Recht auf soziale Gerechtigkeit in der modernen Welt. Zweitens Luthers total einseitige, mit Gott begründete Obrigkeitsherrschaft der Fürsten und damit sein Kampf gegen eine Volksobrigkeit oder wenigstens ein Mitspracherecht des Volkes. Drittens Luthers absolutistischer Autori- tätsanspruch in allen Glaubens- und Lebensfragen und von daher nicht nur seine kompromisslose Ablehnung anderer M e i n u n g e n, sondern seine rücksichtslose Verdammung aller M e n s c h e n anderer Meinun- gen in die Hölle, allen voran die Verdammung der Juden. Viertens die historisch enge Verbindung zwischen Thron- und Altar der lutherischen Kirche mit der preußischen Obrigkeit und damit das Modell der Kirche als Staatskirche. Fünftens Die lutherische Nazikirche im Dritten Reich und das Unwesen der Deutschen Christen und damit die Missachtung der säkular-demokratischen Rechtsstaatlichkeit. Das sind einige Punkte, die Luther und seine Kirche für unsere säkulare Demokratie heute nicht akzeptabel machen. Ist denn die Frömmigkeit Luthers mit dem Zeitgeist unserer heutigen Gesellschaft kompatibel? Nein, nicht in der Spitze. Der Denk- und Vernunftdruck des modernen Menschen ist inzwischen weit vorangeschritten. Der Zeitgeist liegt in der Loslösung des Menschen vom kirchlich befohlenen Glauben an einen zentralen Gott. Mit der Loslösung von Gott als der höchsten reli- giösen Autorität setzt sich der moderne Mensch frei von größtmöglicher Fremdbestimmung. Indem er sich herausnimmt aus der göttlichen Be- vormundung, entwickelt er sich zu einem sich selbst bestimmenden und verantwortenden Individuum. Er wird ein moderner autonomer Mensch. Luther ist von diesem Zeit- geist unse- rer heutigen Gesellschaft unendlich weit entfernt. Er trifft viele Menschen nicht mehr wirklich existenziell. Vernunft und Selbstbe-stimmung waren Luther also in Wirklichkeit kein Anliegen? Das kann man sehr gut so sagen. Er hat den Vernunft-Menschen auf seinem Weg in die moderne Welt total diskriminiert. Er nannte die Vernunft eine Hure, die den Menschen verführt. Wie soll der denkende Mensch dem folgen? Luthers Vernunft- und Realitätsfeindlichkeit trifft genau unseren erst benannten Kritikpunkt, nämlich Luthers Verrat an den Bauern mit ihrer realen Forderung nach sozialer Gerechtigkeit in einer sich auf Zukunft wandelnden Welt. Da Luther sich den Bauern verweigerte, wurde Thomas Münzer, ein ehemaliger Anhänger Luthers, Anführer des Bauernaufstandes. Münzer hatte Luthers Gnadentheologie in eine politische Theorie der sozialen Volksrevolution weiterentwickelt und in der Parole zugespitzt: Gott steht auf der Seite der Armen, der Schwachen, der Unterdrückten, nicht auf, der Seite der Fürsten und Ausbeuter. Er forderte die Fürsten in Drohbriefen auf, die Bauern sofort freizulassen. Die Bauern hätten dennoch lieber Luther als Anführer gehabt, eben den führenden Kopf der Reformation. Sie hatten natür- lich Luthers Schrift mit dem reißerischen Titel Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520) gelesen. In einem Petitionsschreiben an Luther erbaten sie von ihm für ihren gerechten Kampf um ihre Freiheit eine positive Stellungnahme zur Unterstützung. Denn, so argumentier- ten sie, wenn Gott, wie Luther sagt, die Menschen durch Christus zu freien Menschen gemacht hat, wie können dann die adelige Herren die Bauern als Leibeigene in elender Knechtschaft verrecken lassen? Doch Luther schwieg. Sie hatten Luthers auf den Himmel gerichtete Freiheit eines Christenmenschen als ihre weltliche Befreiung missverstanden. Weltliche Freiheit hatte Luther nicht gemeint Als die Gefahr eines Bürgerkriegs größer wurde, stellte sich Luther radikal gegen die Bauern mit Hinweis auf Römer 13,1-2: Jedermann sei untertan der Obrigkeit die Gewalt über ihn hat denn jede Obrigkeit kommt von Gott. Von solcher Obrigkeit waren für Luther ausschließlich Im Jahr 2017 feiern Kirche und Bevölkerung 500 Jahre Reformation. Dr. theol. Paul Schulz, Gründer und Leiter der Senioren-Akademie Alstertal in Volksdorf, sieht das anders: Luther sei ein radikaler Anti-Demokrat und kein Vorbild für die heutige Zeit. Ein Interview. Kein Grund zu feiern! Lutherjahr: Das stimmt so nicht. Seit Jahrzehnten drängt es Herrn Dr. Schulz, seinen Frust über die Kirche und den christlichen Glauben an die Öffentlichkeit zu bringen. In Bezug auf die Feiern zum Luther-Jubiläum 2017 behauptet er, dies sei kein Grund zu feiern, und die Kirche hätte es versäumt, Luthers problemati- sche Äußerungen zu korrigieren. Das stimmt so nicht: Seit Jahren haben die Kirchenleitung, die theologischen Fakultäten und die Gemeinden diese Fragen nach wissenschaftlichen und historischen Kriterien aufgearbeitet. Es gibt eine Fülle von Literatur darüber. So auch das Thema der sozialen Gerechtigkeit: Luther hat viele Missstän- de seiner Zeit furchtlos in der Öffentlichkeit angesprochen, besonders den Missbrauch des Ablasshandels, und den reinen, unverfälschten, evangelischen Glauben verkündet. Dabei riskierte er Leib und Leben. Heutzutage gibt es in den Medien viele Klagen über die wachsende, sozi- ale Ungerechtigkeit in unserem Land, aber selten hören wir, dass konkret und gezielt etwas gegen diese Ungerechtigkeit, wie z.B. die Altersarmut, getan wird. Luther hat uns durch seine Schriften Gottes Liebe und Gnade nahe gebracht, die Entwicklung unserer deutschen Sprache gefördert und uns wunderbare Glaubenslieder geschenkt. Deswegen feiern wir fröhlich und dankbar mit Christen aus aller Welt in ökumenischer Verbundenheit das Luther-Jubiläum. Waltraud Fohl