schlagartig alles anders

16 | ALSTERTAL MAGAZIN MAGAZIN Und schlagartig ist alles anders. I ch will nichts mehr hören und sehen. Ich bin matt, ausgelaugt, unkonzentriert. Den ganzen Tag Gespräche, Überlegungen, Stra-tegien und Szenarien. Und dann schaue ich einen TV-Abend lang in die überzogen-betroffenen Gesichter der Fernseh-Kollegen. Schädelbrummen. Nur meine Meditation hilft mir. Und im Hintergrund des Denkens verläuft die Zerrissenheit zwischen so widersprüchlichen Informationen: Alles sei gar nicht so schlimm, übertrieben, einige Experten sprechen von Hysterie (in diesem Winter erkrankten allein 119.280 bestätigt an Grippe, 202 davon starben). Und die andere Experten-Gruppe ist voller Sorge, Medien zeigen Bilder von Särgen, Infektionskurven, die steil nach oben gehen. Wem ver- trauen? Jenen Wissenschaftlern und Journalisten, die uns bereits Waldsterben, Schweinegrippe, Vogelgrippe, SARS, AIDS, Rinderwahnsinn oder das Ebolavirus als das Ende der Welt in Sondersendungen und Brennpunkten ankündigten? Oder eben jenen, die sagen, bringt eure alten und gefährdeten Menschen für eine Zeit in Sicherheit und gut. Alles sei wie eine jährliche Grippe-Epidemie, fertig. Bitte legt deshalb nicht das ganze Land lahm mit unabsehbaren Folgen. Was stimmt? Was ist tatsächlich? Achtung, lese ich, Fake- News im Netz. Wenn der Virologe Wolfgang Wodarg im Netz zu anderen Schlüssen kommt als die Mehrheit der Stimmen, wird er bereits als Irrer abgestempelt. Und das ausgerechnet vom SPIEGEL, der eilig einen Wodarg-Faktencheck erfindet allerdings aktuell ohne dessen besten Mitarbeiter Claas Relotius, der massenhaft gefälschte Fakten schrieb, wofür man ihn liebte und mit Preisen überhäufte. Die Hamburger Medien ermahnen uns, zu Hause zu bleiben. Fahrlässig unterdrückt wird die Frage: Wer ist schuld daran, das Deutschland viel zu wenig Atemschutzmasken etc. hat, nicht einmal genug für das medizinische Personal? Wo sind die Namen, wo liegen die Verantwortlichkeiten? Ganz China lief zur Sicherheit mit Schutzmasken durch die Straßen, sie waren Zwang. Und Deutschland? Hat keine Dann bringen sich Philosophen und Ethiker ins Gespräch: Was, wenn die Krankenhäuser und Intensiv-Betten überlastet sind? Wen sollen die Ärzte retten und vor allem, wen sollen sie sterben lassen? Wie würde sich ein linker Arzt entscheiden, wenn vor ihm ein sterbender schwerreicher Deutscher liegt und daneben ein junger syrischer Mig- rant? Ja, solche Fragen werden gestellt. Was macht das alles mit meinem Kopf, wenn ich herausgerissen werde aus meinem einstigen Vertrauen in eine globalisierte Welt und Wissen- schaft? Oder hatte ich nicht schon immer Zweifel an den Eine-Welt- Fantasien und einem Global Village? Und parallel muss ich auch noch das lauter werdende Gejammer ei- fersüchtiger Klima-Aktivisten ertragen. Um ein paar hundert oder tausend alte Menschen zu retten, so ihre aktuellen Beschwerden, werden ganze Volkswirtschaften stillgelegt aber wenn es darum geht, die ganze Menschheit zu retten, steigt nicht einmal jemand aufs Fahrrad um! Und nach der Krise? Je schwieriger unsere nähere Zukunft voraussagbar wird, desto mehr kommt die Zeit der Weissager: Hier die Optimisten, die Beruhiger, die Es-wird-alles-gut-Leute einerseits und dort die Schwarzseher, Krisenbeschwörer, Apokalyptiker. Fortschritt und vor allem die Digitalisierung sollen unsere Zukunft retten. Begeistert sollen wir ins Silicon Valley blicken doch die Bilanz Plötzlich müssen wir uns neu zurechtfinden. Ein Essay von Wolfgang E. Buss. fällt enttäuschend aus. Nichts weiter als eine billionenschwere und nahezu überflüssige Aufmerksamkeits-Bewirtschaftungsindustrie hat das Valley erschaffen, allerdings ohne Forschungs-Fortschritt. In was hat man da investiert? Nur in Abzocke von Daten und Dollars? Facebook, Instagram, LinkedIn & Co. entpuppen sich in dieser Krise als nichts weiteres denn Zeitverschwender. Enkel, ihr könnt die Omi in der Krise einfach anrufen! Mit dem Telefon! Die freut sich! Nix Snapchat. Den Silicon-Valley-Helden rufe ich zu: Hättet ihr euer Geld besser in Grundlagenforschung und Wissenschaft gesteckt! Selbst Gott wird mit der Krise plötzlich ins Spiel gebracht. Einem Ungläubigen wie mir, den man im Mittelalter längst auf dem Scheiter- haufen verbrannt hätte, ist das aktuell schwer erklärbar. Wie kann ich einen lieben Gott, der einen hinterhältigen Corona-Virus schafft und zu uns Menschen schickt, anrufen, er möge uns davor beschützen? Es gibt nichts Schändlicheres als die Krankheit. Dieser Satz erinnert mich an den Roman Die Pest. Albert Camus schrieb ihn 1947, wir lasen ihn als junge Leute und wurden konfrontiert mit dem Element der ständigen Revolte gegen die Sinnlosigkeit der Welt. Das Absurde unseres Seins, das Camus in der Pest beschreibt, begegnet mir in der Corona-Krise noch einmal ganz bewusst. Wunderbare Menschen werden sterben, und jene Mistkerle, die eine Strafe verdient hätten, bleiben verschont. Wie jene Verbrecher aus Osteuropa, die aktuell die Angst unserer Senioren missbrauchen, indem sie sich als Corona-Tester ins Haus lügen und ihnen das Ersparte rauben. Ist die Erkenntnis daraus, dass sich Nächstenliebe nicht auszahlt? Corona tötet ohne Solidarität. Natürlich bringt Camus Werte wie Solidarität, Freundschaft und Liebe als möglichen Ausweg ins Spiel, wenn auch die Absurdität nie ganz aufgehoben werden kann. Und das ist Hoffnung, die uns Corona ma - chen kann: Wir rücken plötzlich zusammen, sind uns wieder näher, die Nachbarn werden vertrauter und die Gemeinschaft wird wieder kostbar. Spannend auch, was mein Freund und Poker-Weltmeister Stephan Kahlhammer dazu denkt. Als Diplom-Mathematiker und einer der besten und erfolgreichsten Pokerspieler der Welt, übt er sein Denken und Handeln im Ungewissen aus. Er vergleicht das Pokerspiel mit jenen Lebenssituationen, in denen wir entscheiden müssen, obwohl wir nicht wirklich wissen, was Sache ist. Der Pokerspieler kennt die Karten seiner Gegner nicht. Er kann nur vermuten, sich Logisches ertasten, muss aber im Ungewissen über hohe Summen entscheiden und trotzdem gewinnen. Ganz besonders als Weltmeister. Das hilft im Umgang mit der Krise: Seine einzige Grundlage ist das Ungewisse. Und seine Klugheit. Davon können wir lernen. Ich erlebe die Corona-Krise gerade als Parabel für die leichtfertige Überschätzung unserer selbst. Die Welt, wie wir sie kennen, löst sich gerade vor unseren Augen auf, beschreibt Zukunftsforscher Matthias Horx den Moment. Die menschliche Zivilisation sei zu dicht, zu schnell, zu überhitzt. Sie raste zu sehr in eine bestimmte Richtung, in der es keine Zukunft gibt. Fühlten wir uns alle zu sicher auf einem falschen Trip? Müssen wir uns noch einmal neu erfinden? Klar ist, es wird weitergehen! Und genau dann wird sich die essentielle Frage stellen: Wie wollen wir weiterleben? Genau so? Ich bin sicher, es wird so kommen. Wieder geradeaus hinein ins Ver- gnügen und alles schnell vergessen. Wir rücken plötzlich zusammen, sind uns wieder näher.